Geniale PR Kampagne zur Förderung der Technik-Begeisterung unserer Ururgroßeltern - Überlegungen und Untersuchungen zum technischen, sozialen und kulturellen Hintergrund
eines weltbekannten Liedes *
(*Prüfungsthema zum Magister in Empirischer Kulturwissenschaft, April 1989)
Das Lied ist bekannt, ja vielleicht sogar weltbekannt: "Auf der schwäb'schen Eisenbahne gibt's gar viele Haltstatione". In Hamburg. Tokyo und Schanghai ist dieser Vers zumindest in einschlägigen Kreisen bekannt. Und das muss den Kulturwissenschaftler erstaunen. Warum macht ausgerechnet das Lied von der schwäbischen Eisenbahn Karriere? Warum nicht das von der bayerischen, die doch immerhin als erste deutsche von Nürnberg nach Fürth zuckelte, 1835 zum Wohlgefallen des bayerischen Königs Ludwig. Oder ein Lied von der sächsischen, die Friedrich List, der in Schwaben so wenig geliebte und vor allem gänzlich unverstandene Prophet der Industrialisierung, mitbegründen half, jener Reutlinger, der immerhin im Jahre 1863 in seiner Heimatstadt ein Denkmal gesetzt bekam, lange Jahre, nachdem er sich verzweifelt in Kufstein das Leben genommen hatte. Oder ein Lied von der badischen Eisenbahn. Die fuhr ja schon lange Zeit vor der Schwäbischen, ein erster Zug pendelte zu Großherzogs Geburtstag im Jahre 184o von Mannheim nach Heidelberg. Nein, es wurde das Lied von der Schwäbischen Eisenbahn gesungen, das berühmt wurde und in die Herzen der Menschen Eingang fand.
Schöner Reim: Biberach - Durlesbach
Liegt es daran, dass sich die Streckenbeschreibung der ersten Strophe so leicht merken lässt? Als die vielen Haltstationen werden da genannt: Stuttgart, Ulm und Biberach, Meckenbeuren und Durlesbach, ausgesprochen und gesungen natürlich in mehr oder weniger stark ausgeprägtem Dialekt.
In Baden hätte es heißen müssen: Mannheim, Karlsruhe, Offenburg, Freiburg und Basel badischer Bahnhof. Bleiben wir in Württemberg, wo sich Biberach so schön auf Durlesbach reimt. Dem orts- oder zumindest Landeskundigen fällt auf, dass die Abfolge der Haltestellen nicht genau den Verlauf der Bahnlinie angibt. Sicher, Stuttgart war die Hauptstadt im 1805 aus den napoleonischen "Flurbereinigungen" hervorgegangenen Königreich Württemberg. Damit hatten Ludwigsburg und Cannstatt endgültig das Rennen verloren, König Friedrich I. hatte sich im Stuttgarter Neuen Schloss niedergelassen. Dort war fortan die höfische Zentrale. Und dort musste unter seinem Sohn und Nachfolger König Wilhelm I also auch der zentrale Bahnhof hin; kein leichtes Spiel, wie wir später sehen werden, für die Bahntechniker, liegt doch Stuttgart unten im Talkessel, ein Alptraum für Eisenbahnkonstrukteure, damals wie heute.
Ulm. Die alte Reichsstadt, der uralte Verkehrsknotenpunkt. Schon zur Römerzeit ein beliebter Treffpunkt für Händler aus aller (damaligen) Welt. Ulm musste auch Bahnanschluss bekommen. So sahen das zumindest die Ratsherren. Denn als König Wilhelm erstmals darüber nachdachte, auch in seinem Land eine Eisenbahn bauen zu lassen (1834 wurde eine entsprechende Kommission ins Leben gerufen), da war noch von einer Linienführung durch das Remstal die Rede. Der Grund leuchtet ein: Man wusste in Regierungskreisen um den Bau der Ludwigseisenbahn von Nürnberg nach Fürth, die im kommenden Jahr eröffnet werden sollte. Und so dachte man an den Eisenbahnanschluss Richtung Nürnberg in Nördlingen, wo die Linie Nürnberg- Augsburg vorbeiführen sollte. Ein grenzüberschreitender Gedanke wohl. Aber es war nicht der wichtigste. Entscheidender war die Trassenführung: Durch das Rems-, Kocher- und Brenztal glaubte man den ansonsten fast überall im Land hinderlichen Albtrauf einigermaßen geschickt umfahren zu können.
Albtrauf: Eisenbahn im Gebirge
Der alte Stephenson, Papst unter den Eisenbahnkonstrukteuren, war ein Feind von Steigungen und allzu starken Krümmungen. 1 : 100 war seine Devise, am Albtrauf handelte es sich aber um Steigungen von 1: 45, ein Problem, das sich nach dem Stand der Technik von 1830 nur mit Pferdebetrieb oder mit Seilwinden und stationärer Dampfmaschine lösen ließ. Nur die Wagemutigsten waren dem Feuer der neuen Zeit so zugetan, dass sie beharrlich auf eine Eisenbahn im Gebirge setzten. Die sich solchermaßen nicht durch die „hügelichte" und "bergige", wie es damals hieß, Topographie Südwestdeutschlands schrecken ließen - es waren Schwaben. Und ihr wichtigster Vertreter war Karl Etzel, der Sohn des angesehenen Oberbaurats Etzel, der unter König Friedrich in Stuttgart die Neue Weinsteige angelegt hatte, auch nicht gerade eine einfache Trassenführung!
So konnte also tatsächlich 1843 ein königliches Gesetz erlassen werden, welches den Bau einer württembergischen Eisenbahn von Stuttgart durch das Neckar- und Filstal über die Geislinger Steige nach Ulm vorsah. Das Filstal hatte gewonnen, und die 1805 mit der Einverleibung nach Württemberg so gekränkte alte Stadt Ulm konnte wenigstens die Hoffnung hegen, mit der Bahn zu neuer wirtschaftlicher Blüte zu gelangen. Die Ratsherrn der Donaustadt wussten genau, was ihnen die neue Eisenschiene bringen konnte: Verkehr von Nord nach Süd und von West nach Ost, und überdies die Verlademöglichkeit von der Bahn auf das Schiff.
Stichwort Donaudampfschifffahrt, Abteilung Ulm. Die Schiffe waren ja die ersten Fahrzeuge, die mit Dampf betrieben wurden. Sie tuckerten auf der Donau, und sie überquerten den Bodensee. Friedrich I. hatte 1811 am "schwäbischen Meer" mit der Stadtneugründung Friedrichshafen ein Zeichen gesetzt. Ab 1824 fuhr Dampfschiff "Wilhelm" (1816 war der dicke König gestorben) über den Bodensee ins mehrfache Ausland: nach Konstanz in Baden, nach Rorschach in der Schweiz, nach Lindau in Bayern. Und jetzt wurde kalkuliert, wie die Verbindung Ulm - Friedrichshafen am besten zu bewerkstelligen sei. König Ludwig der Bayer hatte neben der Bahnlinie sogleich einen schiffbaren Kanal eröffnet. Solches war auch für Oberschwaben denkbar: eine Wasserverbindung von der Donau zum Bodensee durch das Riß- und Schussental. Die Entscheidung fiel zugunsten der Eisenbahn. Eine einspurige Verbindung wäre billiger, eine zweispurige teurer als der Kanal gekommen. Aber man erkannte wohl den Vorzug einer Schienenverbindung an den See - und baute zunächst einspurig, wobei gleich Platz für das zweite Geleis geschaffen wurde.
Deshalb Biberach. Biberach, das Städtchen in Oberschwaben, sollte Bahnanschluss bekommen. Sicher, die Bahn musste ja irgendwo langführen. Aber in Oberschwaben wiederholte sich, was im Streit zwischen Rems- und Filstalgemeinden schon stattgefunden hatte: es gab Streitereien um den Schienenanschluss. Biberach machte das Rennen, Waldsee aber, Wangen, Isny und Leutkirch gingen leer aus; erst heute können sie wieder als Fremdenverkehrsorte von sich reden machen.
Aus Meckenbeuren grüßt der Ziegenbock
Im Lied von der schwäbischen Eisenbahn kommt jetzt Meckenbeuren. Schon vom Klang her ein Dorf; von Meckenbeuren bis zum Bäurle, das später mit der Bahn fahren wird und sich dabei so dumm anstellt und seine Ziege anbindet, statt sie ins Gepäckabteil zu verfrachten, ist es zumindest klanglich nicht weit. Aber Meckenbeuren liegt schon nahe bei Friedrichshafen. Die Bahn passiert vorher noch Schussenried, Aulendorf, Mochenwangen und andere oberschwäbische Haltstationen. Genannt im Lied wird Meckenbeuren, und wir wollen hier einmal unterstellen, dass dies aus Gründen des schönen Reimes geschah. In "Mecke" hört man ja richtiggehend den Ziegenbock, der so elend ums Leben kommen wird.
Und dann Durlesbach. Nicht die letzte Haltestelle, sondern topographisch zwischen Aulendorf und Mochenwangen mitten in einem tiefen Wald gelegen, in dem damals, so will es jedenfalls die Überlieferung, "Zigeuner, Wilderer und Räuber" ihr Unwesen trieben. Durlesbach ist nicht mal mehr ein Dorf. Es ist wirklich nur noch ein Produkt der neuen Eisenbahnzeit, eine Haltestelle. Denn zum Schutz gegen die Räuber vom Schussentobel ließ Oberbaurat Gaab hier ein Wärterhaus hinstellen. Und benannt wurde es nach einer Redensart der Bahnarbeiter, die hier unten im Tal beim Bau von 13 Brücken dauernd durch den Bach gewatet waren, durlesbach eben, wie eisenbahnbegeisterte Bahnhistoriker immer wieder erfreut feststellen.
Jetzt wird klar, was das Gesinge von den vielen Haltstationen soll: es ist die Hierarchie der Orte, es ist die Abfolge industriell-zivilisatorischen Fortschritts. Und ein jeder Schwabe kann nun im Vergleich feststellen, wie weit er praktisch und mental von der Zentrale in Stuttgart entfernt ist. Um der Historie Genüge zu tun, sollte kurz erwähnt werden, dass die Königlich-Württembergische Staatseisenbahn auch noch von Stuttgart in nördlicher Richtung nach Heilbronn führte mit dortigem Anschluss an die Neckarschifffahrt Richtung Rhein. Solchermaßen konnte 185o die feierliche Eröffnung stattfinden. Die Verbindung vom Rhein an die Donau und an den Bodensee war geschafft. Hier hatte das an sich im Bahnbau spät gestartete Königreich Württemberg das Rennen gemacht. Der alte Traum der "fossa Carolina", einer mitteleuropäischen Verkehrsverbindung von der Nordsee zum Mittelmeer, war ein gutes Stück zur Realität geworden, nicht als Wassergraben, sondern als eisernes Band. Aber bleiben wir beim Lied. Wer hat das Lied von der Schwäbischen Eisenbahn eigentlich erfunden, wer hat den Text verfasst?
Wer hat das Lied gedichtet?
Ludwig Uhland war es nicht, obwohl der ja wie List durchaus für die große nationale Verbindung war. Justinus Kerner war es auch nicht. Der reimte gegen die Eisenbahn und gegen den technischen Fortschritt: "Fahr zu, o Mensch, treib‘s auf die Spitze, vom Dampfschiff bis zum Schiff der Luft, flieg mit dem Aar, flieg mit dem Blitze, kommst weiter nicht als bis zur Gruft." Kurze Zwischenfrage: Ahnte der Technikfeind Kerner 1852 schon, dass 5o Jahre später in Friedrichshafen die neue Technologie des Luftschiffes von Graf Zeppelin ihren Aufstieg nahm? Wer also war es, der die bis zu 27 Strophen von der Schwäbischen Eisenbahn verfasste? Der Volksmund? Versuchen wir eine zeitliche Herkunftsbestimmung.
Erstmals schriftlich belegt ist das Lied von der Schwäbischen Eisenbahn auf einem Neuruppiner Bilderbogen, der sich im Museum in Altona befindet: 1880. Dann finden wir es in einem Basler Liederbuch ("Allgemeiner Liederschatz") von 1888. Und schließlich ist der Text abgedruckt in einem Tübinger Kommersbuch von 1894. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, so unterstellen wir, dürfte es in aller Munde gewesen sein, übrigens mit 19 Strophen auch gerne gesungen in Baden. War es den Badenern nur recht, dass hier in Württemberg das dumme Bäuerlein zum Antiheld wurde?
Die Badische Eisenbahngeschichte hält immerhin eine weit größere Torheit bereit: Von 1840 bis 1854 verlegten die Rheintäler ihre Schienen stolzgeschwellt im Abstand von 1600 mm, während die Norm von Bayern mit 1435 mm sich in Preußen und eben auch in Württemberg durchgesetzt hatte, schließlich zum verbindlichen mitteleuropäischen Schienenabstandsmaß wurde, was die Badener aber offenbar im ersten Jahrzehnt nicht weiter störte, weil sich manche Regierungskreise nicht vorstellen konnten, was eine Verbindung zum Nachbarland Württemberg für einen Sinn haben könnte. So mußten sie 1854 die Schienen wieder abschrauben und auf 1435 mm zurechtrücken. Ein mühseliges Unterfangen, war die Linie doch bereits auf weit über 7o Kilometer angewachsen. Von den Lokomotiven und Wagen ganz abgesehen, denen die Räder umständlich versetzt werden mussten.
Der erste Liednachweis also 1880. Da die definitive Streckenführung erst 1843 beschlossen worden war, muss das Lied zwischen sagen wir 1850, dem Eröffnungsjähr, und 188o entstanden sein. Und wer hat es gedichtet? Ein Gesangsvereinsvorstand oder ein Liederkranzleiter? Namen sind nicht bekannt. Und das ist eben das erstaunliche. Von den meisten schwäbischen Volksweisen ist bis ins winzige Detail bekannt, aus wessen Feder sie entspringen und wer wann welche Melodie dazu verfasst hat. Oder auch umgekehrt: welcher Text wann auf welche ältere Melodie gelegt wurde.
Stichwort Melodie: Es gibt ein altes Lied "Hamburg ist ein schönes Städtchen", das Pate gestanden haben könnte. Aber es gibt auch Fährten, die in ein badischen Soldatenlied münden. Genaues weiß man nicht einmal im Deutschen Volksliedarchiv. Und das ist, wie gesagt, das Besondere. Ich möchte eine weitere Variante andeuten, um die Verwirrung noch zu vergrößern. Das Lied könnte aus Amerika stammen. Nein, keine Rache von Friedrich List. Vielmehr ein paar Indizien, die erstaunen lassen. Wir müssen dabei zunächst eine technische Frage erörtern.
Die schwäbische Eisenbahn bzw. die KWStE (Königl. Württembergische Staats-Eisenbahn) kaufte auf Anraten ihren technischen Betriebsleiters und späteren Direktors Ludwig Klein die ersten 6 Lokomotiven sowie die nötigen Personenwagen in Amerika; bei Norris und Baldney die Lokomotiven (mit dem Doppelachsdrehgestell wegen der besseren Linienführung in starken Krümmungen), und bei Eaton, Gilbert & Cie die Wagen. Das muss erstaunen. Denn Wagen wie Lokomotiven gab es seit 1841 in der Maschinenfabrik von Emil Kessler in Karlsruhe zu kaufen. Aber die Badisch-Württembergischen Verbindungen standen ja nicht zum Besten. Also kaufte man in Amerika, ließ Wagen und Material über den Ozean kommen, verschiffte die schweren Teile, lud sie umständlich auf Pferdefuhrwerke und baute sie schließlich vor Ort zusammen, unter der Anleitung eines erfahrenen Technikers natürlich.
Blutige American Connection: goat auf railroad - tot
Hier also muss Ludwig Klein, der Amerika auf einer Studienreise kennengelernt hatte, eng mit einem amerikanischen Kollegen zusammengearbeitet haben. Und der könnte in Kenntnis einer amerikanischen Volksweise gewesen sein, die den Zusammenhang von Railroad, goat und der amerikanischen Version des Bäurle (im Original: Farmer) besingt. Da hängt der Farmer sein rotes Hemd zum Trocknen an die Leine am Bahndamm. Die Ziege frisst das Hemd, aber die Leine hängt zum Mund heraus. Und nun bindet der erboste Farmer seine Ziege auf den Schienen fest, sie soll nicht länger leben. Der Zug rast heran, überfährt das Tier und siehe da: die Wäscheleine verfängt sich am Wagen, die Ziege wird zerfetzt, und heraus kommt das rote Hemd - der Zug ist beflaggt. Amerikanischer Humor, nachgewiesen immerhin für das Jahr 186o und insofern sicherlich früher gereimt.
Vielleicht ist diese American connection zu weit hergeholt, es fehlen ja auch genaue Belege. Wir können Herrn Eisenbahndirektor Klein nicht mehr befragen. Aber bleiben wir bei dem amerikanischen Import: Spätestens seit der wichtigen Studie von Wolfgang Schivelbusch über die Geschichte der Eisenbahnreise ist bekannt und sozusagen offensichtlich, dass die europäischen Eisenbahnwagen das Aussehen von aneinander gereihten Postkutschen haben, lauter kleine Abteile also, während sich die amerikanischen Modelle am Vorbild des Dampfschiffes orientierten und den Großraumwagen zum Gestaltungsprinzip erhoben.
Diese Sicht leuchtete zumindest mir bei der Lektüre sofort ein: Wie geradezu kulturanalytisch klar zeigte sich hier eine Form der Technik-Aneignung, eine Mischung aus alten und neuen Reiseformen, ein schöner Kompromiss zu Beginn der alles umwälzenden Industrialisierung. Nicht so in Schwaben! Wohl kannten die Württemberger die Kutsche, das Postkutschenwesen hatte sogar unter Friedrich I eine wesentliche Ausweitung erfahren, sogar Fahrpläne gab es schon, auch eine überraschende Pünktlichkeit. Aber jetzt das: Großraumwagen. Ein gänzlich neues Reiseraumgefühl. Ein amerikanischer Import, der immerhin bis zu Beginn des Deutschen Reiches 1871 beibehalten wurde, also von der 1846 in Esslingen mit Hilfe von kräftigen Staatssubventionen errichteten Maschinenfabrik Esslingen, ein Ableger von Emil Kesslers Maschinenfabrik in Karlsruhe übrigens(hier hatten die Württemberger den findigen Unternehmer aus Baden abgeworben), nachgebaut wurde.
Warum? Wegen der amerikanischen Doppelachse auf Drehgestell und der verbundenen Kurvengängigkeit? Man hätte auf diesem Gestell durchaus einzelne Abteile montieren können. Dann vielleicht wegen des so schrecklichen Eisenbahnunglücks 1842 auf der Strecke Paris-Versailles, wo ein damals noch aus Holz gebauter Personenwagen in Brand geraten war und die aus "Sicherheitsgründen“ in den Abteilen eingeschlossenen Fahrgäste elend verbrannt waren, 5o an derZahl, für damalige Verhältnisse eine markerschütternde Katastrophe, ein Zeichen Gottes, mindestens ein Werk des Teufels?
Alle in einem Raum
Soviel Weitsicht wollen wir nicht unterstellen. Der Wagen war in New York geordert worden, er kam als Großraumwagen in Stuttgart an. Wieso sollten da nicht die Schwaben alle zusammen in einem Raume sitzen? In den Nahverkehrszügen hat sich dieses Modell immerhin bis heute gehalten! Außerdem ließ sich ein großer Raum damals leichter beheizen.
Es bleibt festzuhalten, dass das schöne Bild von den aneinander montierten Kutsch-Abteilen im Schwabenland nicht zu finden ist, weder in der I. noch in der II. oder in der III. Klasse. Sie hockten zusammen. So oder so. Und was das Lied betrifft, wollen wir konstatieren, dass es unter Umständen auch der Feder eines lyrisch begabten Beamten bei der Bahndirektion entstammen könnte. Der wusste den Streckenverlauf, der wusste um die Problematik der Erschließung des ländlichen Raumes, der wusste um das Problem des Fahrkartenverkaufs. Und der wollte vielleicht im Volkslied versteckt die Richtlinien zum ordnungsgemäßen Gebrauch der Eisenbahn unters Volk bringen, gleichzeitig in Form einer geschickten Drehung das Problem der hohen Geschwindigkeit vermitteln. Denn wer das Lied sang, der war ja Gott sei Dank nicht mehr so unerfahren wie das Bäurle, der wusste um die Gefahr des dampfschnaubenden Dahinratterns mit 25 Kilometer pro Stunde. Die Fahrt von Stuttgart zum Bodensee dauerte nur noch 4 Stunden! Das war der Sieg der neuen Technik. Das war das neue Zeitalter, das es zu besingen galt. Deshalb: "So jetzt war des Liedle g‘sunge, hat's eich recht in d' Aure klunge, stoßet mit de Gläser a, aufs Wohl der schwäb'sche Eisenbah." Und für die in ihrer Auffassungsgabe etwas langsameren Zeitgenossen gab es immerhin den Ausweg der Wiederholung: "Wer's no et begreife ka, fang's no emol von vorne a." Trulla trulla trulla la.
Warum eigentlich Trulla? Lustiger wäre doch gewesen Trallala. So wie der Kasper, der wieder da ist, der mit der Bimmelbahn fährt zur Großmutter. Auch da gibt es ja die vielen Haltstationen. „Alle aussteigen, die hierher wollen, alle einsteigen, die mitfahren wollen.“ Pfiff. Im Ernst: Auf das Tri und das Tra wurde im Refrain verzichtet. Die Autoren wählten das Trulala, jene lautmalerische Umschreibung der neuen Fortbewegungsart.
Hört man nicht geradezu den Dampfzug durch das Ländle schnaufen, stark und zugkräftig, hart arbeitend, die Schwäbische Alb erklimmend. Kann man nicht sogar singend mithelfen, dass es vorangehe. Trulatrulatrulala. Das U so zielgerichtet und bodenständig, wie die Schienen nun einmal sind. "
FortfortfortFortfortfort" reimte Detlev von Liliencron auf den Blitzzug (1901), "drehn sich die Räder rasend dahin auf dem Schienengeäder..." Das O hierin gehört längst zur Hochgeschwindigkeitstechnologie der Jahrhundertwende. Trulla drückt noch den Kampf aus, den das Dampfross in seinen ersten Jahrzehnten mit der Überwindung der Strecke zu kämpfen hatte. In Geislingen wurden ja spezielle Maschinen eingesetzt, sogenannte Dreikuppler, die drei Achsen gleichzeitig antrieben. Modell "Alp", extra für die Schwäbische Eisenbahn hergestellt, später häufig exportiert nach Österreich, wo 1854 die erste Alpenüberquerung gelungen war (Semmeringbahn), nach Tirol, wo über den Brennerpass Schienen gelegt wurden, schließlich in die Schweiz, wo las Projekt Gotthard-Bahn Fortschritte machte. Die Badener freilich konstruierten für ihre Schwarzwaldbahn von Offenburg nach Villingen eigene Bergmaschinen. Trulla also als ein Ausdruck für den schnaubenden Fortschritt, der noch des Mitgefühls bedarf . Es ist ja noch das Dampf-"ross", von dem die Rede ist. Und dem heißt es gut zureden.
Verweilen wir kurz bei der Metapher vom "Ross". Das war die bekannte Ausgangsform, in Pferd, das Heu und Hafer frisst, meistens willig zieht und schafft, aber eben häufig auch ausgetauscht werden muss. Ein Tier eben , ein Lebewesen wie der Mensch auch. Mit Pferden kannten sich die Schwaben aus. Jetzt fauchte das funkensprühende Dampfross durchs Land. Da war natürlich schnell vom Teufel die Rede. Der Teufel, so sehr er für die Konstrukteure im Detail steckte, war in den Augen mancher Zeitgenossen für das ganze Werk verantwortlich.
Es kommt eine Zeit, „wo d‘ Wäge ohne Gäul fahret“
Es wurde geweissagt, dass jedes Mal, wenn der Zug den Bahnhof verlasse, ein Fahrgast sterben müsse. Der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl machte sogar ein umfangreiches Sammelsurium von Eisenbahnsagen aus, die im Volk verbreitet seien. Überliefert sind einzelne Geschichten. Alte Prophezeihungen, so von Philipp Matthäus Hahn, dem Pfarrer, Arzt und Mechaniker, daß eben dieser schon Jahrzehnte früher vorausgesagt habe, es käme eine Zeit , "Wo d' Wäge ohne Gäul fahret".
Und dann die schaurig-schöne Geschichte von der Bogerin aus dem Remstal, die, man beachte doch auch die Verführungskraft der neuen Technologie, im hohen Alter doch noch das Enkelkind in Stuttgart besuchen will. Ihr Sohn rät ihr sehr zu, mit der Bahn zu fahren, "damit sie das auch nochmal erleben kann". Und die gute Frau betet tagelang vor Reisebeginn, dass alles gut gehen möge. So fährt der Zug dann von Cannstatt kommend über die Neckarbrücke in den Rosensteintunnel hinein. Es wird dunkel. Ruß und Dampf, Feuerfunken und Staub fliegen durch die Luft, dringen ins Abteil. Da legt sich die arme Frau auf den Boden und fleht zu Gott, er möge sie erretten. Ein anderer Fahrgast, ein reiseerfahrener Stuttgarter Händler, wendet sich dem zu Tode erschrockenen Weibe zu und meint trocken, es gehe nicht in die Hölle, sondern geradewegs auf Stuttgart zu. Es ging durch den 3oo m langen Rosensteintunnel.
Aber hatte die Frau nicht doch auch Recht? Immerhin war im Frühjahr 1847 eine Frau aus Fellbach vor lauter Angst, nicht rechtzeitig aussteigen zu können, zu früh aus dem Wagen gestiegen, als dieser noch in Fahrt war. Sie fiel hinunter, kam unter die Räder, und beim Versuch, ihr die Beine abzunehmen, um wenigstens ihr Leben zu retten, verstarb die Frau doch an den Folgen der Verletzung. Kurzum: es war gefährlich, mit der Bahn zu fahren.
Ja sogar die Sage von den Wagen, die völlig ohne sichtbaren Antrieb fuhren, (wieder war dabei der Teufel gesichtet worden) hatte einen realen Hintergrund: Das Gefälle von Geislingen nach Süssen etwa, fertiggestellt schon 1849, reichte aus, um einen herrenlosen Gepäckwagen durch das halbe Filstal rollen zu lassen. Da ging es nicht mit rechten Dingen zu. Von der Geislinger Steige gar nicht zu reden. Da machten sich die Bahnbediensteten einen Spaß daraus, kleinere Gepäckwagen mit Muskelkraft bergan zu schieben, um auf ihnen hinab zu rollen. Ein gefährliches Spiel, das, von Unerfahrenen kopiert, zu manchem Unfall führte.
Teufelszeug – und schnelles Transportmittel
Und es gab auch wirkliche Katastrophen. Eine Lokomotive explodierte, der Heizer flog, so ein Zeitungsbericht, den Berg hinab in die Stadt hinein, und der Lokomotivführer starb an schweren Verletzungen. Es war schon ein Teufelszeug, die Bahn. Aber sie hatte den schier unglaublichen Vorteil, dass man mit ihr große Entfernungen relativ bequem zurücklegen konnte. Allein dieser Gewinn an Handlungsspielraum führte dazu, daß bald nach Fertigstellung der Zentralbahn von Heilbronn nach Friedrichshafen der Ausbau weiterer Linien beschlossen wurde. Jedenfalls kämpften die Städte und Gemeinden jetzt für den baldmöglichsten Anschluss.
Je öfter die Eisenbahn fuhr - 185o transportierte sie bereits 1,7 Millionen Fahrgäste über durchschnittlich 23 Kilometer - desto mehr gewöhnten sich die Menschen an den Anblick des neuen Verkehrsmittels. Und hatten sie sich erst an den Anblick gewöhnt, dann stieg die Lust, auch einmal damit zu fahren. So jedenfalls die Geschichte von der Frau, die ihr Enkelkind noch einmal sehen will. Eine glaubwürdige Handlung.
Nicht vergessen werden darf, dass Arbeiter aus ganz Württemberg beim Bau der Bahn geschuftet und sich und ihre Familien in den Hungerjahren 1846/47 über Wasser zu halten versucht hatten. So gab es in den Gemeinden von Fils und Remstal, aber auch in der Gegend um Stuttgart jede Menge Arbeiter, die selbst Hand angelegt hatten und von daher mit dem neuen Verkehrsmittel vertraut waren. Sie freilich konnten sich eine Fahrt mit der Bahn kaum leisten. Den Bruttoverdienst, also nicht etwa nur den Gewinn, von 10 Tagen harter Arbeit kostete eine Fahrkarte von Stuttgart an den Bodensee, III. Klasse. Das konnten sich nur die Reichen leisten, das heißt diejenigen vom Hofe, die Beamten und ihre Familien.
Was also ist von einem Sonderzug zu halten, der wenige Wochen nach der Eröffnung von Stuttgart nach Friedrichshafen fuhr und, so etwas hatte es ja noch nie gegeben, am selben Tag zurück? Eine Ausflugsfahrt durchs Schwabenland mit 60 Fahrgästen bei herrlichem Sonnenschein, wie die Zeitung vermerkt. Nun, es war entlang der Bahnlinie nicht mehr vom Teufel die Rede. Aber es gab auch nicht den erwünschten Beifall. Immerhin ist die versuchte Revolution von 1848 erst wenige Monate her, und der Hunger steckt den Menschen noch in den Knochen. Doch muss auch hier festgestellt werden, dass die Bahn von beiden Seiten genutzt wurde. Einerseits verbreitete sich die Revolution besser und schneller entlang der Bahnlinien, nicht etwa, weil die Menschen ständig mit der Bahn fuhren, sondern vor allem, weil die Bahn ein neues Kommunikationsmittel war. Nachrichten konnten über die Schiene schneller als zuvor verbreitet werden. Es reichte ja ein Abgesandter, um die Kunde von Stuttgart nach Heilbronn zu bringen. Sicher fuhren die Revolutionäre auch mit der Bahn, zur Volksversammlung nach Esslingen etwa. Aber an Zahl überlegen gewesen waren eher die Soldaten, die im königlichen Auftrag mit der Bahn zum Einsatzort gefahren wurden.
Orient-Express fährt durch Württemberg
Schauen wir noch einmal auf das Jahr 1880, in dem das Lied von der Schwäbischen Eisenbahn schriftlich belegt ist, so finden wir ein bereits recht gut ausgebautes Schienennetz in Württemberg. Die Querverbindungen nach Baden und Bayern sind gelegt, an der Strecke durch die Hohenzollerschen Lande wird noch gearbeitet, aber 1883 fährt erstmals der Orient-Express durch Württemberg. Auf seiner Reise von Paris nach Konstantinopel macht er Halt in Stuttgart und Ulm. Die Reisegeschwindigkeit hat sich verdoppelt auf ca. 5o km pro Stunde. Und im schwäbischen, vor allem oberschwäbischen Hinterland werden zur Erschließung der Region Privatbahnen gebaut, manchmal von Ort zu Ort, manchmal über eine längere Strecke mit mehreren Städten und Dörfern hinweg.
Die Eisenbahn gehört zunehmend zum Erscheinungsbild in der Landschaft. So kommt es dazu, dass der Bummelzug von sagen wir Unterboihingen nach Kirchheim fährt, mit Zweiachser-Wagen, sogar mit einzelnen Abteilen, eben das bekannte Bild von der Bimmelbahn. Und doch singen die Schwaben ihr Lied von der großen Schwäbischen Eisenbahn, von der Transitstrecke Atlantik - Schwarzes Meer. Und das stört nicht einmal. Denn die neue Technik hat in den Alltag der Menschen hineingefunden. Unterm Strich gesehen funktioniert die Eisenbahn. Man steigt ein, setzt sich auf einen Platz, wartet den Zielbahnhof ab und steigt wieder aus. Das ist das ganze Geheimnis. Da braucht man dem Schaffner nicht wutentbrannt abgerissene Ziegenbockköpfe um die Ohren zu hauen. Es reicht, wenn man akzeptiert, dass die Bahn schneller fährt, als ein Ziegenbock laufen kann. Und: "Wer's no et begreife ka, fang's no emol von vorne a!" Trulatrulatrulala.
Achim Kühne-Henrichs